14 jugendliche Ensemblemitglieder sitzen fröhlich auf einer Bühnentreppe zum Gruppenbild.
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We are Sick

Arrogante Blicke, aggressive Pöbeleien und abschätzige Bemerkungen.

Schon vor Beginn der Aufführung am 18. Oktober 2017 wird die Stimmung in der Aula des Friedrich-Ebert-Gymnasiums angeheizt. Schnell wird klar, das hier wird keine harmonische Liebesgeschichte werden.

Ein gutes dreiviertel Jahr haben Schülerinnen und Schüler der 12. Klasse im DS-Unterricht unter der Leitung von Frau Träger an ihrem Stück „We are sick“ gearbeitet.

Angelehnt wurde diese Inszenierung an Stephen Sondheims „Westside Story“, durch die Anpassung an die moderne Welt des 21. Jahrhunderts in Berlin und die Ideen der Schüler, erlangte sie jedoch ihren ganz eigenen Charme und Charakter und überrascht mit einem unerwarteten Ende.

Zuerst scheint alles ganz klar zu sein, wir befinden uns in Berlin Neukölln, die alteingesessenen Snakes verteidigen ihr Revier gegen die zugewanderten Tigers, dazwischen eine übermotivierte Polizistin mit leicht wahnsinnigem Blick und wie sollte es anders sein, ein unglückliches Liebespaar. Die Schwester der Anführerin der Snakes, Maria, verliebt sich in Tony, die rechte Hand des Tigerboss.

Jedes Gangmitglied, jeder Charakter ist ausgearbeitet, keiner gleicht dem anderen und die Schüler scheinen in ihren Rollen richtig aufzugehen. Gemeinsam hat die Gruppe Typen entwickelt, Leute, die man überall findet: eine Dumme, eine Amerikanerin, zwei oberflächliche Zicken, einen Gewalttätigen. Doch auch wenn alle zusammen die Ideen für die Charaktere sammelten, bei der Aufführung gab jeder einzelne seiner Rolle die ganz persönliche Note.

Das Bühnenbild und die Kostüme sind schlicht gehalten, trotzdem hat man den Eindruck, jeder Ohrring und jede Haarlocke sind gut durchdacht.

Die Tigers in komplett schwarz gekleidet, kennzeichnen sich durch ihre roten Bandanas, dem gegenüber stehen die Snakes in schwarzer Hose, grauem T-Shirt, Jeansjacke und weißen Schuhen mit giftgrünen Bandanas.

Das Ziel war hier möglichst viele realistische Elemente einzubauen, möglichst viel Alltag in das Stück zu projizieren, was der Gruppe nicht nur hinsichtlich der Optik gelungen ist, auch die Dialoge sind auf die heutige Sprache und den Wortschatz der Schülerinnen und Schüler angepasst.

Der Anspruch besteht nicht darin, ein poetisches Meisterwerk in geschwollener Sprache auf die Bühne zu bringen, wie Shakespeare und Schiller es taten, die Botschaft der Gruppe ist eine viel banalere, die sich erst im Laufe der Stückerarbeitung entwickelte und auch nicht auf den ersten Blick erkennbar scheint.

„We are sick“ aber wer ist wir? Das steht im Vordergrund, denn die Gangstreitigkeiten und die Liebesgeschichte sind nur Nebensachen, die so in den Fokus gerückt werden, dass die Frage nach dem „wir“ beim Zuschauer nach kurzer Zeit entweder in Vergessenheit gerät oder gar nicht erst ankommt.

Gezielt eingesetzt stören immer wieder plötzliche Tonelemente das durch „Westside Story“ bekannte Handlungsgeschehen: die Gangs treffen ich beim Tanzabend, Maria und Tony verlieben sich, es kommt zum Kampf und danach stellt sich die große Frage, was tun, wenn der Boss nicht mehr ist?!.

Die ersten Male noch eher unauffällig, beim Zuschauer als Fehler der Technik abgetan, doch irgendwann immer lauter und penetranter, stellen die Tonsequenzen ein auffälliges, jedoch zunächst nicht zu erklärendes Stilmittel dar.

Dazu kommt die immer wahnsinniger werdende Polizistin, am Ende steht sie im pinkem Schlafanzug auf der Bühne, die mit überragender schauspielerischer Leistung noch mehr Verwirrung stiftet.

Doch nicht nur Paula K. glänzt in ihrer Rolle als Polizistin, viele Schülerinnen und Schüler präsentieren eine völlig neue Seite von sich und beweisen ihr teilweise herausstechend gutes schauspielerisches Talent.

Besonders schön ist zu sehen, dass einige Schülerinnen und Schüler, durch die neue Situation, über sich hinauswachsen und nicht nur das Publikum, sondern auch sich selbst mit ihrem Können überraschen.

Auch das Zusammenspiel zwischen den Spielenden ist äußerst harmonisch, dadurch entsteht eine Dynamik, die durch das ganze Stück hinweg die Spannung aufrecht erhält und vor allem den Schülern Spaß an ihrem Werk bereitet. Außerdem fördert sie die fast durchweg gegebene Konzentration aller Beteiligten, denn jeder weiß was er zu tun hat und auch kleinere Momente, in denen Spielerinnen und Spieler aus der Rolle fallen, können schnell überwunden, oder durch die Flexibilität der anderen weitestgehend überspielt werden.

Vorher kritisch gesehene theaterästhetische Elemente, wie der Gruppentanz oder der Spannungsaufbau vor dem Kampf, stärken das Gruppengefühl und erzeugen ihre gewünschte positive Wirkung beim Publikum, sie hätten jedoch an einigen Stellen in der Ausführung sogar noch überspitzter sein können.

Dies ist, neben der Tatsache, dass sich einige Schauspieler mehr und andere etwas weniger Zeit beim Spielen hätten lassen können, einer der wenigen Kritikpunkte an dieses Stück.

Des Weiteren hätte es teilweise noch Verbesserungsmöglichkeiten bezüglich der Technik gegeben, doch auch dort wurde im Großen und Ganzen, und unter Betracht dessen, dass die Techniker einen Tag zuvor das erste Mal proben konnten, eine ganz außerordentliche Arbeit verrichtet.

Als sich zum Ende des Stückes dann plötzlich eine Mordserie ereignet in der erst Tony‘s Nebenbuhler Chuck, Tony umbringt und dann durch einen Tiger namens Giwar ebenfalls das Zeitliche segnet, wird das ganze Mysterium um das Stück aufgelöst: die Gangs sind keine Gangs, sondern konkurrierende Basketballmannschaften und die Polizisten hat das Geschehene in ihrem Kopf, während eines psychotischen Rückfalls in der Psychiatrie, erfunden.

So machen die Störelemente und die Veränderung der Polizistin plötzlich Sinn.

Diese, durch einen starken Bruch und einen plötzlichen Ortswechsel in die Psychiatrie verursachte Auflösung, wird im Publikum teils als schlüssig, teils als unverständlich gesehen, doch findet im Gesamteindruck Anklang.

Die Frage nach dem „wir“ wird anschließend bei den Zuschauern heftig diskutiert, hat die Polizistin sich alles eingebildet, weil sie krank vor Rassismus ist? Oder haben die vermeintlichen Gangs die Polizistin krank gemacht? Eine Auflösung gibt es nicht, die muss jeder für sich kennen.

Doch in einem Punkt scheinen sich alle einig zu sein, dieses Stück hatte alles, es war Drama, Komödie und Tragödie in einem. Die Liebesgeschichte zwischen Maria und Tony, der Kampf und der Tod der beiden Anführer, die kranke Polizistin und das Happy End lösten Lachen, Bestürzung und Verwirrung aus und haben die Inszenierung zu einem einzigartigen Werk gemacht, in dem sichtlich viel Mühe steckte.

Selbst die kleinen Fehler und Missgeschicke haben nicht geschadet, sondern das Stück und die Darsteller umso liebenswerter gemacht, schließlich darf man nicht vergessen, viele standen das erste Mal auf der Bühne.

Grundsätzlich also eine sehr gelungene Inszenierung mit viel Inhalt und vielen ausgearbeiteten Details, die am Ende Potenzial zur Diskussion bot, die durchweg positive Resonanz vom Publikum erhielt und auf die alle Beteiligten sehr stolz sein können.

Text: Selina Yorat

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